Impressionen „All_Tag“ (2023)

All_Tag /

 

Walter Goetze _ Besonderer Alltag – alltägliches Besonderes (Text und Musik) /

Mechtild Beucke-Galm _ Gedanken über den All_Tag  (Text und Fotos) /

Regina Welke _  Die Schönheit im Alltag (Text, Foto und Musik) /

Doris Zölls _ Glaube nicht, dass das tägliche Tun ein Hindernis ist (Text) /

Barbara Lemke _ Heute ist All-Tag (Gedicht) /

 


 

Walter Goetze _ Besonderer Alltag – alltägliches Besonderes 

 

Sich zum Frühstück ein Müesli zubereiten, das ist ein schöner Einstieg in den Alltag. Dabei entstehen Abfälle. Soweit das Alltägliche. Der Blick in die für die Abfälle bereitgestellte Schale beendete dies ganz plötzlich. Das Besondere daran sprang ins Auge. Das Müesli wurde vorübergehend vergessen, die Abfälle wurden fotografiert. Dann wurde im Fotoprogramm ein wenig an den Reglern gedreht, dann das Bild noch elf Mal kopiert. Durch die bloße Wiederholung desselben entstand etwas ganz anderes. Interessant!

Ähnlich verhielt es sich mit dem Musikstück. Angefangen hatte ich mit einer Basslinie. Ich wollte auszuprobieren, was sich darüber so alles machen lässt. Als ich mir die Aufnahmen ein paar Tage später wieder anhörte, hatte ich Lust, das Angefangene weiter zu entwickeln.
Damals dachte ich nicht an das Thema Alltag, aber jetzt denke ich, dass es ganz gut dazu passe. Ein Bassgroove zieht sich als schier endlose Wiederholung durch das ganze Stück. Deshalb heisst das Stück auch SeGruhf. Darüber findet zwar Unterschiedliches statt, aber es ist mit der Zeit alltäglich. Mehrmals unterbrochen wird es durch eine orientalisch anmutende Melodie, das Besondere, das durch Wiederholung auch schon wieder alltäglich wird.

Manchmal nervt sich die Gitarre und äfft den Bass nach, indem sie dessen Ostinato doppelt. Immer dasselbe, immer dasselbe, sagt sie. Recht hat sie. „Ostinato“ kommt von hartnäckig, eigensinnig.Und manchmal geht die Gitarre neugierig auf Reisen und lässt sich dabei vom Gitarristen und Produzenten Nile Rodgers inspirieren. Auch das funktioniert über das Ostinato der Bassgitarre.

Das Stück ist ähnlich entstanden wie die Foto, nämlich während des Lockdowns einsam am Computer sitzend, durch immer wieder andere Zusammensetzung der einzelnen eingespielten Module. Vielleicht liegt hierin ein Rezept für die Begegnung mit dem Alltag, nämlich zu versuchen, das Bekannte immer wieder etwas anders zu sehen. Ein Beispiel: Wenn ich für meine häufigen Stadtspaziergänge eine Kamera mitnehme, ist es ein anderer Spaziergang, als wenn ich stattdessen ein Aufnahmegerät mitnehme. Und eine andere Stadt. Und jedesmal wenn ich dann mit den Ergebnissen spielerisch umgehe, ist es ein Festtag, kein Alltag.

 

 

Musik: Walter Goetze _ SeGruhf (Remix)

 

 


 

Mechtild Beucke-Galm _ Gedanken über den All_Tag 

 

Alltag – was soll daran bemerkenswert sein? Es ist doch das „Gewohnte“, das „Wiederkehrende“ und die „Pflicht“. Es ist das was getan werden muss, zu Hause und im Beruf. Es ist der sich wiederholenden Ablauf, der durch diese Arbeiten und Pflichten bestimmt wird. Für viele Menschen hat der Alltag etwas „Farbloses“, etwas „Langweiliges“.

Diesem Alltäglichen setzen sie das „Besondere“, das „Außergewöhnliche“ gegenüber, das sie am Wochenende oder in der Urlaubszeit organisieren. Was sich außerhalb  des Alltags ereignet, ist attraktiv und energetisierend. Man blickt diesem erwartungsvoll und freudig entgegen. Das können Reisen, Treffen mit der Familie und mit Freunden sein, Theater- oder Konzertbesuche oder auch ein Besuch im Europapark. In meinen Kindertagen war es das Cafe am Ende des Sonntagsspaziergangs, wo eine „Schillerlocke“ (ein Blätterteighörnchen gefüllt mit Sahne) auf mich wartete. Dieses „Besondere“ meiner Kindertage habe ich gut in Erinnerung, ganz anders als die All-Tage. An sie erinnere ich mich nur wenig.

Wenn ich mit anderen über ihren Alltag rede, dann höre ich oft von der Anstrengung, die mit seiner „Bewältigung“ verbunden ist: Es ist jeden Tag viel zu tun, die Zeit reicht nie und es passiert immer Unerwartetes, das im Alltag stört. Man ist vom Alltag erschöpft.

Von der positiven Seite des Alltags höre ich weniger, weniger von der leisen Freude darüber, dass man sich in den Alltagsdingen auskennt und die Arbeiten kompetent erledigen kann, dass man routiniert ist und dass einem Etliches gelingt.

Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, umso deutlicher wird mir, dass ich das Wiederkehrende meines Alltags mag. Der eingespielte Rhythmus tut meinem Körper und meiner Seele gut und bringt Ruhe in mein Leben. Auch wenn es „nur“ die üblichen banalen Dinge sind. Doch je länger ich darüber nachdenke, umso deutlicher wird mir, dass ich sie farbiger und lebendiger wahrnehme als ich mir das bisher bewusst gemacht habe.

Das erinnert mich an ein Koan von Joshu, einem Zen-Meister. Er wurde von einem Schüler angesprochen: “Ich ersuche Euch Meister, gebt mir bitte Unterweisung!“ Joshu fragte: „Hast du schon deinen Reisbrei gegessen?“ Der Schüler antwortete: „Ja, das habe ich.“ Joshu sagte: „Dann wasche deine Essschale.“ Da erlangte der Mönch eine gewisse Erleuchtung. Joshu lenkt die Aufmerksamkeit auf das Alltägliche, weg von dem Außergewöhnlichen. Jede Tätigkeit, so lehrt er seinen Schüler, ist es wert, mit Aufmerksamkeit und Konzentration gemacht zu werden. “Wenn du gehst, dann gehe. Wenn Du isst, dann esse“ sagen Zen-Meister.

Wenn man sich im Alltag auf jede Tätigkeit einlässt und dabei präsent ist, dann sind das Alltägliche und das Besondere gar nicht mehr so unterschiedlich. Das Alltägliche wird dann auch farbig, wie das Besondere.

Neulich bin ich durch die Fotos der letzten Jahre  gegangen. Dabei fiel mir auf, dass ich vor allem Alltägliches fotografiert habe. Ich war etwas überrascht! Offensichtlich spricht mich das Alltägliche mehr an als das Besondere. Ich sehe in vielen alltäglichen Dinge eine gewisse Schönheit. Durch das Fotografieren möchte ich genau diese Schönheit “herausholen“ und sichtbar machen. Merkwürdig, dass ich das bisher so gar nicht wahrgenommen habe.

Wenn mein Mann über den Alltag spricht, – er ist in Großbritannien aufgewachsen – dann sagt er „every day“, nicht „all day(s)“. Im Englischen liegt der Focus auf „jedem“ (einzelnen) Tag“ und nicht auf „allen“ Tagen. Auch interessant – oder?

 

 

 

 


 

Regina Welke _  Die Schönheit im Alltag

 

Für mich: den Wechsel in der Natur beobachten und genießen, ein liebevoller Umgang, leckeres Essen ein gutes Buch und vor allem Musik, hören, selber spielen und manchmal auch komponieren

 

 

Musik: Regina Welke _ Renata

 


 

Doris Zölls _ Glaube nicht, dass das tägliche Tun ein Hindernis ist

 

Glaube nicht, dass das tägliche Tun ein Hindernis ist.

Es gibt keinen Sinn des Lebens außerhalb des täglichen Lebens.

– Dogen Zenji –

 

Es gehört zum Menschsein dazu, dass er sein Leben sinnvoll und erfüllend leben möchte. Sein Leben soll genährt sein von einer sinnhaften Arbeit, reich an vielen lieben Menschen an seiner Seite, in Frieden soll es sein, und, und, und. Ich könnte die Liste endlos weiterführen, sie füllen mit all dem, was mir gut tut, was mir gefällt. So lebt es in mir als eine Vorstellung von einem erfüllten Leben.

Doch hat dies etwas mit der Wirklichkeit zu tun oder ist das nur ein Traum?

Wird nicht unser Alltag bestimmt vom Aufstehen, sich waschen, frühstücken, in die Arbeit gehen, dazwischen essen, wieder arbeiten, manchmal Missstimmungen mit den Mitmenschen aushalten, erschöpft nach Hause kommen, am Abend die anderen Aufgaben erfüllen, warten auf das Wochenende, auf den Urlaub, wo ich endlich dem Alltagstrott entrinnen kann. Der Alltag ist in den meisten Fällen bestimmt von wiederkehrenden Arbeiten, oft auch begleitet von Sorgen und Nöten.  Die wenigen Glücksmomente heben den Trott nicht auf.  Bleibt uns dann nichts anderes übrig, um erfüllt zu leben, aus dem Alltag auszusteigen, etwas Besonderes, Schönes, Bereicherndes zu suchen und zu finden? Die Freizeitindustrie bietet uns dafür unendliche Möglichkeiten an.

Doch Dogen Zenji sagt: „unser Glück hängt eben nicht vom Außen ab und  ist nicht außerhalb des alltäglichen Lebens zu finden. Sinn ist nicht  in den Momenten zu erleben, in denen mir das zukommt, was ich mir vorstelle, was ich gerne hätte. Sinnhaftigkeit finde ich gerade im alltäglichen Tun. Wehre ich mich gegen das, was ist, erlebe ich den Alltag belastend. Nehme ich jedoch das, was sich gerade lebt, radikal als Ausdruck meines Lebens und als entscheidend, erfahre ich mein Leben vollkommen, im wahrsten Sinne des Wortes. Es kommt ganz und gar zu seiner Fülle. Doch was geschieht, wenn es mir nicht gefällt, ich etwas anderes möchte?  Nur in meinen Gedanken kann ich mir denken, dass es etwas anderes gibt als das, was ist. Das Jetzt ist da, so wie es ist. Ich kann nicht das, was das Leben mir gerade unter die Füße legt, weg haben wollen. Es ist und verlangt von mir, mich darauf einzulassen. Lehne ich es jedoch ab, leide ich. Nehme ich es als entscheidenden Moment meines Lebens an, erfüllt es mich. Doch nur ein Hauch von : „ich mag nicht,“ oder der Vergleich in meinen Gedanken mit etwas, was es im Moment nicht gibt, lässt eine bleierne Schwere in mir entstehen und ich fühle mich überfordert.

Lasse ich mich hingegen auf den Alltag ein, wird er zum Feiertag und der Feiertag zum Alltag.

 


 

Barbara Lemke _ Heute ist All-Tag 

 

Alltag

Heute

immer ist Alltag

immer ist Heute

Heute ist das Ist,

das Sein.

Gibt es einen guten oder einen schlechten Alltag

gibt es ein gutes Heute das eigentlich ein gestern war

oder das Morgen sein sollte?

Wie mache ich das

dass das Heute ein Tag zu sein scheint wie alle Tage.

Wie geht das?

Vielleicht indem ich mein Denken wiederhole

wieder-hole?

Indem ich mein Fühlen wiederhole

wieder-hole?

Wie wiederhole ich?

Wie hole ich wieder?

Indem ich mich alt, gebraucht, unfrisch denke?

Denken kann ich auch immer nur Heute.

Wen oder was finde ich vor

Heute?

Mich

mein Da-sein in meinem So-Sein.

Immer.

Und

wenn ich mein Dasein, mein Sosein bedenken will

rinnt es mir davon

wie Butter aus meiner warmen Hand.

Übrig bleibt Heute.

Heute als Raum ist immerwährend.

Heute kann nicht vergehen.

Heute ist All-Tag.