Impressionen „Stand_Punkt_e“ (2024)

Stand_Punkt_e /

 

Hans G. Bauer _ StandPunkt – Assoziationen (Text und Foto) /

Walter Goetze _ „Standpunkt“ – ein seltsames Wort (Text und Musik) /

Antje Netzel _ Standpunkt (verdichtet) /

Arnulf Greimel _ Mein Blick auf Stand-Punkte (Text und Bild) /

Johanna Pabst _ Elferchen zu Stand-Punkten (verdichtet) /

Doris Zölls _ Stand-Ort (Text) /

Hans Herzer und Wolfram Müller _ Aufrechter Stand (Fotos)

 


 

Hans G. Bauer _ StandPunkt – Assoziationen

 

Fester, zementierter kann ein Begriff ja wohl kaum daher-kommen: Stand.Punkt. Punkt.

So steht er da. Tief gegrounded würde man wohl auf neu-deutsch sagen, kaum ver-rückbar. Ist ja auch ein Haupt-wort, ein Substantiv (immer GROSS geschrieben!), ein, so aus dem spätlateinischen abgeleitet, eben Nomen. Ein respektein-flösender Monolit.

Aber schlimmer noch. Die deutsche Sprache lebt, liebt sie vor allem in der Form, sie in großer Zahl zusammenzufügen. Sprachliche Pfahlblockbauten, die gerade auf schlammigen, unsicheren Unter-gründen Halt verleihen. So fest sie alleine schon stehen, umso massiver vereint. Mag man meinen.

Man muss ihn, den Standpunkt, aber noch gar nicht einmal in den Plural setzen, um festzustellen, dass dann alles zu wackeln beginnt. Das fängt schon an, wenn man seine Bestandteile und Sprachspuren genauer betrachtet.

Beginnen wir beim Punkt:

Schon er ist, von seiner Wort- und Begriffsgeschichte her, nicht einfach nur ein Punkt: Entstammt er doch dem lateinischen Verb ‚pungere‘ mit der Bedeutung ‚Stechen‘ bzw. dem ‚punctus‘ oder ‚punctum‘ mit den Bedeutungen ‚Einstich‘, das ‚Gestochene‘ wie auch ‚Punkt‘ oder ‚Abschnitt‘.

Und er gibt, selbst wenn man ihn im Kurzinterview befragt, nicht alles preis, was in ihm steckt:

  • Was tut ein Punkt eigentlich? Liegt er? Rollt er? Steht er? Setzt er (sich)? Setzt er sich auch noch ab? Punktet er? Inter-punktiert er? Markiert er?
  • Ob Ewigkeiten Punkte haben oder brauchen? Ob sie der einzige Punkt sind, den es nicht gibt? Frage ich mich jetzt mal vom Ewigkeitsstandpunkt aus.
  • Kann man einen Punkt in die Länge zu ziehen?
  • Was kümmert mich der Punkt von gestern? Morgen kommen sicher wieder jede Menge.
  • Steht ein Punkt herum. Machte aber keinen.

Der Punkt bringt an dieser Stelle zum Ausdruck, dass man ihn auch hier – wie immer – aus dem Kontext gerissen und missverstanden wie missinterpretiert habe. Punkt.

Springen wir weiter zum Stand:

In seiner Begriffsgeschichte stehen das althoch-deutsche ‚stantan‘ und mittelhochdeutsche ‚stant‘ für das Stehen (vom auf-rechten Stehen auf den Füßen bis zum unbewegten Stillstehen) und zum Ort des Stehens. Mittelalterlich bezieht es sich auch auf gesellschaftliche Schicht(ung)en, hinzu kommen der Stand „der Dinge“ (sei es die zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichte Stufe eines Ablaufs, sei es ein erreichter Wert, eine Menge, Größe, Höhe o. Ä.) oder der der persönlichen Beschaffenheit oder Verfassung. Der Stand kann freilich auch ein kleiner, abgeteilter, manchmal nur zeitlich befristet zur Verfügung stehender Raum sein (vom Stall bis zum Marktstand), aber auch einen großen Rückhalt bedeuten. Und auch: Im althochdeutschen ‚firstand‘ steckte gar der Verstand und der ‚urstand‘ im Sinne der Auferstehung.

Der Stand erklärte sich zu einem Kurzinterview prinzipiell nicht bereit, da er mit so Vielem in Verbindung stünde, dass man ihn, den Stand, schlicht verlöre. So gut wie alles könne man mit ihm verbinden, vom Taxistand zum Ehestand, vom Miss- zum Unverstand und weit über diesen hinaus. Lediglich über sein (ins-geheim eingestandenes) spezielles, weil tief verworrenes Verhältnis zum Punkt gelang eine investigative, daher freilich nur unsystematische Sammlung, die letztlich verdeutlichte: Einen Standpunkt zu haben scheint relativ einfach. Aber dann miteinander klar zu kommen ist wahrlich nicht einfach. Man kann sich davon einen Begriff machen:

  • Wie viele Standpunkte sind zu viel?
  • Ist ein Punkt nicht zu heftig? Wie viele brauchts zu einem Stand?
  • Doppelt der Doppelpunkt den Stand?
  • Halten Standpunkte ewig?
  • Ist ein Bindestrich ein niedergestreckter Standpunkt?
  • Tanzt der Doppelpunkt zum Standpunkt oder gar umgekehrt?
  • Spitzt man einen Standpunkt ungespitzt oder gespitzt in den Boden?
  • Der Standpunkt ist ein einbeiniger Geselle.
  • Können Standpunkte uferlos sein?
  • Spricht der Standpunkt zum Standort: Du bist mir zu teigig. Meint der Standort: Und Du mir zu punktuell! So gesehen gar nicht so einfach, einen Standpunkt zu haben. Oder gar zu bilden.
  • Wenn zwei Standpunkte aufeinandertreffen, können sie sich übersehen, sich übergehen, sie können randalieren, einander gar abstoßen, sich aber auch einander annähern, können sogar miteinander verschmelzen. Hat er (sich) dann verloren?
  • Suchen sich Standpunkte? Kann sich ein Standpunkt allein fühlen? Verliert er ohne Stand den Punkt? Wie geht es dem Punkt dann? Kann er alleine etwas – noch dazu aus dem Stand – schaffen?

Eine Art Abschlussgeschichte, die mir einen wahrscheinlich alten Standpunkt immer wieder verrückt:

Es war einmal üblich, sogar artig (der Begriff muss einem natürlich zu denken geben), „Bitte“ und „Danke“ zu sagen. Heute bedankt sich ein(e) Moderator*in bei der zur Ablieferung eines Standpunkts mit einem Dank. Woraufhin der/die Standpunktlieferant*in jetzt üblicher Weise ebenfalls dankt. Warum nicht: „Bitte, hab‘ ich doch gern getan“? (Und natürlich danke, dass Sie mich gefragt und gebeten haben). Ist ein Bedankungsritual ein Standpunkt?

 


 

Walter Goetze _ „Standpunkt“ – ein seltsames Wort

 

„Standpunkt“, das habe ich in meine Sammlung „seltsamer“ Worte aufgenommen, nämlich Worte, die gut klingen, die aber, wenn man genau hinsieht, eigentlich etwas völlig anderes bedeuten, als der Klang uns vormacht. Hier zwei weitere Beispiele aus meiner Sammlung:

 

Durchstarten: häufig im Sinne von „Herausforderungen packen“, „jetzt richtig loslegen“ verwendet. Zum Beispiel „Durchstarten mit dem neuen Team“ (ein Buchtitel), oder eine Publikationsreihe der Bundesagentur für Arbeit, mit „durchstarten“ betitelt. Aber was bezeichnet dieses Wort eigentlich? Das Landemanöver des Fliegers wird abgebrochen, der Pilot gibt nochmals Schub. Man hatte sich innerlich schon auf das Absetzen auf die Piste und das Ausrollen eingestellt, stattdessen ist man wieder in der Luft. Wo landet man jetzt? Erwischt man noch den Anschlussflug oder den Zug, der einen nach Hause bringen soll? Durchstarten ist unangenehm und definitiv kein erfreuliches Manöver. Und das möchte man mit dem neuen Team? Wohl kaum.

 

Quantensprung, etwas Riesiges, Großartiges ist gelungen. Doch was ist eigentlich ein Quantensprung? Ein minimaler und erst noch instabiler Energiesprung in einem Atom. Mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar, instabil und von kurzer Dauer. So dürfte es nicht gemeint sein.

 

Doch was ist nun mit dem Standpunkt? Geometrisch gesprochen ist es ein Objekt ohne jede Ausdehnung. Schwer vorstellbar, wie man darauf stehen kann. Aber vielleicht ist bloß der Ort gemeint, wo man steht. Mir wären allerdings Synonyme wie Gesichtspunkt, Perspektive, Betrachtungsweise lieber. Das klingt offener, weniger apodiktisch als „hier stehe ich, Punkt“.

 

Den Worten in meiner „seltsamen“ Sammlung ist etwas gemein: die umgangssprachliche Bedeutung hat sich deutlich von der ursprünglichen, fachlichen Wortbedeutung gelöst. Und: den Worten wohnt offenbar eine Kraft inne. Sie wollen etwas bezeichnen, das als stark wahrgenommen wird. Oder eher, man hat den Wunsch, etwas als stark darzustellen.

 

An dieser Stelle regt sich in mir der Spötter. Jahrelange Erfahrung als Berater liefern mir Anschauungsmaterial. Wie oft schon wurde in Workshops mit Durchstarten eine Aufbruchsstimmung im Unternehmen herbeibeschworen? Aber schon wenig später war der Schwung weg oder war gar nie in der Breite angekommen. Es sei wieder mal eine Sau durchs Dorf getrieben worden. Wie oft schon wurde mit Quantensprung etwas bezeichnet, von dem es später hieß, der Berg habe eine Maus geboren? Immerhin. Wie oft schon haben Führungspersonen in Organisationen oder in der Politik ihren Standpunkt erklärt – an den sie sich wenig später nicht mehr erinnern konnten?

 

Da holt uns halt die ursprüngliche Wortbedeutung wieder ein. Deshalb, wenn wieder einmal von Quantensprung, Durchstarten, Standpunkt klären die Rede ist, empfehle ich genau hinzusehen, abzuwarten und die Euphorie für später aufzubewahren – gegebenenfalls.

 

 

Musik: Walter Goetze _ Point of View

 


 

Antje Netzel _ Standpunkt

 

Fest – Unerschütterlich,

Nicht fest – Offen und wandelbar,

Aus dem Stand – mit ganzer Person,

Auf den Punkt – jetzt,

Ein klarer Gedanke genügt!

Woher er kam, was er bewirkt?

Frag die Stille …

 


 

Arnulf Greimel _ Mein Blick auf Stand-Punkte

 

Neulich befragte mich ein guter Freund nach meinem Standpunkt. Es ging um ein wichtiges Thema. Ich war für einen kurzen Moment verunsichert, weil ich offen gestanden zu seiner Frage keinen Standpunkt hatte und jetzt auch keinen finden konnte. Und es fiel mir keine Ausrede ein. Deswegen stellte ich meinem Freund die sehr grundsätzliche Gegenfrage, wozu man überhaupt einen Standpunkt brauche.

Bestimmt, so fanden wir, hätte es seine Vorzüge, erst gar keinen zu haben. Denn dann müsste man diesen weder einnehmen noch vertreten oder verteidigen. Es fielen uns dazu sprachliche Wendungen ein, wie „kann schon sein“, die einen sagen so, die anderen so“, oder „darüber müsste man wirklich einmal nachdenken!“

Eine variantenreiche Version wäre es auch, den Standpunkt einer dritten Person ins Gespräch zu bringen. Ein Beispiel: „Minister X findet die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn völlig indiskutabel, will aber kein Geld für eine Sanierung zur Verfügung stellen“. Plötzlich geht es um was ganz Anderes. So kann man in diesem Fall ganz darauf verzichten, sich zu positionieren. Standpunkte können auch völlig widersprüchlich sein. Dieses Phänomen tritt häufig auf, und für die meisten Leute, die widersprüchliche Standpunkte haben, stellt das überhaupt kein Problem dar..

Die  Verfügbarkeit von gut begründeten Standpunkten zu den aktuellen sozialen und politischen Themen ist für das persönliche Image und für Small-Talk Situationen von eminentem Vorteil. Man kann sie problemlos den Schlagzeilen seiner Tageszeitung entnehmen. Ich erlebe es immer wieder als eine besonders schöne Erfahrung, gefühlsmäßig voll im Einklang mit meinem Standpunkt zu sein. Mir begegnet dann in der Diskussion bei mir selbst eine nicht alltägliche innere Leidenschaft.

Allerdings dürfen wir die mögliche Komplikation nicht aus den Augen verlieren, sich argumentativ völlig zu vergaloppieren. Dann ist es wichtig, sich mit einer Strategie des „Rückzugs ohne Gesichtsverlust“ aus der Affäre zu ziehen: Sätze wie „da hast Du auch wieder recht“, „so kann man es auch sehen“ oder gerne auch „wissenschaftlich ist dieser Punkt durchaus noch strittig“ können – nach meiner Erfahrung – unmittelbar zur Entspannung der Lage beitragen. Es soll ja nicht nur darum gehen, unbedingt Recht zu haben!

Ich wundere mich immer wieder, wie naiv Vertreterinnen und Vertreter von Politik, Journalistik und Wissenschaft, die sich in die Manegen einer Talkshow haben führen lassen, dort umstandslos alles tun, um ihren guten Ruf zu verspielen. Sie reden lange ohne Punkt und Komma und reihen bis zur Verwirrung Standpunkt an Standpunkt. Sie fallen einander unschön ins Wort. Sie drehen auf und verdrehen schamlos die Standpunkte ihrer Gesprächspartner.

Wäre es nicht klüger, realistisch zu sein und sich auf „vorläufige“ oder „tendenzielle“ Standpunkte zu verständigen? Es würde der Suche nach der Wahrheit und dem  Bemühen um die Erkenntnis der Wirklichkeit die zwischenmenschliche Schärfe nehmen. Standpunkte müssen ja keine Standpauken sein!

Bestimmt haben auch Sie schon das Wohlbehagen eines gemeinsamen Standpunkts erleben dürfen. Hier ziehen wir die tiefe Freude am Einklang, an der Harmonie der Lust am Streit vor, oder dem intellektuellen Genuss am kontroversen Dialog. Wie schön die Aussage „wir haben einhellig den Standpunkt…“ sein kann, zeigt Ihnen ein kleines Aquarell, das aus einer solchen Situation spontan entstanden ist.

Es bleiben viele Fragen, die weiterführen können:

  • Woher kommt und wie wirkt eine Überdosis an Standpunkten?
  • Worauf steht so ein Standpunkt, um standfest zu sein?
  • Ist er immer mit einer klaren Perspektive und mit klaren Konsequenzen verbunden?
  • Wohin könnte es führen, wenn ich einen (oder sogar meinen) Standpunkt verlasse, um ihn von einem anderen Standort aus zu betrachten?
  • Was geschieht, wenn Stand und Punkt überhaupt nicht zusammenpassen und ich einen der beiden oder sogar alle beide verändern muss?

Doch liegt die wirkliche Brisanz des Themas noch vor uns: Wenn sich Standpunkte von Fake-Standpunkten nur schwer unterscheiden lassen oder wenn wir den richtigen Standpunkt mithilfe Künstlicher Intelligenz ermitteln, wird sich unsere Haltung zu diesem Thema möglicherweise auf einen zutiefst befreienden und zugleich  beruhigenden Satz kulminieren:

„Es ist halt wie es ist“.

Dieser Satz wurde mir früh von meiner Elterngeneration mit auf den Weg  gegeben. Ich will ihn mir in einer Zeit der Standpunkt-Diffusion bewahren. Ein Nachbar hat sich, ich weiß nicht wie, einen noch weiter führenden Satz zum Lebensmotto erkoren:

„Es kommt sowieso, wie es kommt“

Hier will ich in aller Klarheit eine rote Linie ziehen. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass es jederzeit auch anders kommen kann. Wer wollte mir da widersprechen?

 


 

Johanna Pabst _ Elferchen zu Stand-Punkten

 

Elfchen

deine Struktur

ermöglicht es mir

bewegt zu Standpunkten zu

schreiben.

 

Mensch

kann stehen

und gehen wenn

er kann und will

immer.

 

Wenn

etwas steht

dann fließt es

nicht, es steht für

immer

 

Stelen

die stehlen

dem Kern die

Schale das tut weh

verletzt

 

Dialog

mit Standpunkten

ist das möglich

viele versuchen es und

scheitern

 

Kunst

ein Augenblick

entscheidet darüber dass

ein eigener Standpunkt bleibt

jetzt

 

Standpunkt

so bewegungslos

wie kann man

das auf Dauer aushalten

tot

 

Bewegung

du bist

immer das Gegenteil

von einem Stand-Punkt

oder?

 

Leuchtturm

ohne einen

festen Stand-Punkt

wärest du einfach nur

sinnlos

 

Standpunkt

bist du

tot oder machst

du einfach nur eine

Pause

 

Baum

hier ist

es ganz klar

ohne Standpunkt fällt er

um

 


 

Doris Zölls _ Stand-Ort

 

Wir haben uns in der Stadt verabredet, doch leider haben wir uns verpasst. Da läutet das Telefon: „Wo kann ich dich finden?“ frage ich. „Nimm einfach dein Handy. Auf ihm kannst du meinen Stand-Ort sehen.“ Mir wird bewusst: Es gibt keinen Ort mehr, an dem ich nicht geortet werden kann, sobald ich ein Handy, PC oder das Auto benutze. Mein Stand-Ort ist sichtbar, überall auf der ganzen Welt zu bestimmen.

 

Ich könnte einfach alle Geräte ausstellen, mich von der Welt abschotten, allein für mich sein, doch für wie lange? Ich möchte doch zur Welt gehören, möchte in Beziehung stehen zu ihr und den Menschen. Ich möchte Freunde treffen, mit ihnen reden, mich mit ihnen austauschen. Damit bin ich in jedem dieser Momente an einem einsehbaren Stand-Ort, ich bin in der Welt sichtbar und verbunden. Diese Verbundenheit trägt jedoch auch große Gefahren in sich. Durch meinen fest gelegten Stand-Ort kann ich als der oder diejenige bestimmt werden und im schlimmsten Fall sogar verfolgt. Ich komme keinem mehr aus.

 

Ich streife die Gedanken, die dies bedrohlich erscheinen lassen erst einmal von mir ab. Im Moment bin ich noch frei. Ich lasse mich von den Vorstellungen daran, verfolgt zu werden, nicht ängstigen. Ich will mich jetzt in der Welt frei bewegen. Bewegung ist Leben, nicht stehen bleiben, nicht fest geschrieben werden. Das ist frei sein, das birgt Lebendigkeit in sich. Ich erlebe, stehe ich auf einer Brücke und schaue hinab in einen Fluss, wie er unter mir her fließt. Meine Augen suchen jetzt nicht das Ufer, nichts woran ich mich fest halte. Ich tauche ganz und gar in das Fließen ein, gehe mit  dem Strom mit, der sich in unzählige Wellen aufwirft.

 

Auf einmal wandelt sich meine Wahrnehmung. Nicht mehr der Fluss fließt, ich selbst fließe, sogar die Brücke steht nicht mehr fest, sie fließt mit mir mit. Brücke, Ich, mein scheinbar fester Stand-Ort sind zum Fließen geworden. Lebendigkeit durchströmt mich, Freude taucht auf. Keinen festen Stand-Ort zu haben, im Lebensfluss mit zu treiben, lässt alle Bedenken, fest geschrieben zu sein, verschwinden. Ich habe keinen Stand-Ort mehr. Jeder Moment ändert sich unentwegt , er wird lebendig. Das Fließen wird zum Stand-Ort. Nirgendwo halte ich mich fest, ich bin nirgendwo zu verorten,  mein Stand-Ort ist das Fließen. Das Beständige ist das Unbeständige.

 


 

Hans Herzer und Wolfram Müller _ Aufrechter Stand