Impressionen „Stand_Punkt_e“ (2024)

Stand_Punkt_e /

 

Hans G. Bauer _ StandPunkt – Assoziationen (Text und Foto) /

Walter Goetze _ „Standpunkt“ – ein seltsames Wort (Text und Musik) /

Antje Netzel _ Standpunkt (verdichtet) /

Arnulf Greimel _ Mein Blick auf Stand-Punkte (Text und Bild) /

Johanna Pabst _ Elferchen zu Stand-Punkten (verdichtet) /

Doris Zölls _ Stand-Ort (Text) /

Hans Herzer und Wolfram Müller _ Aufrechter Stand (Fotos)

 


 

Hans G. Bauer _ StandPunkt – Assoziationen

 

Fester, zementierter kann ein Begriff ja wohl kaum daher-kommen: Stand.Punkt. Punkt.

So steht er da. Tief gegrounded würde man wohl auf neu-deutsch sagen, kaum ver-rückbar. Ist ja auch ein Haupt-wort, ein Substantiv (immer GROSS geschrieben!), ein, so aus dem spätlateinischen abgeleitet, eben Nomen. Ein respektein-flösender Monolit.

Aber schlimmer noch. Die deutsche Sprache lebt, liebt sie vor allem in der Form, sie in großer Zahl zusammenzufügen. Sprachliche Pfahlblockbauten, die gerade auf schlammigen, unsicheren Unter-gründen Halt verleihen. So fest sie alleine schon stehen, umso massiver vereint. Mag man meinen.

Man muss ihn, den Standpunkt, aber noch gar nicht einmal in den Plural setzen, um festzustellen, dass dann alles zu wackeln beginnt. Das fängt schon an, wenn man seine Bestandteile und Sprachspuren genauer betrachtet.

Beginnen wir beim Punkt:

Schon er ist, von seiner Wort- und Begriffsgeschichte her, nicht einfach nur ein Punkt: Entstammt er doch dem lateinischen Verb ‚pungere‘ mit der Bedeutung ‚Stechen‘ bzw. dem ‚punctus‘ oder ‚punctum‘ mit den Bedeutungen ‚Einstich‘, das ‚Gestochene‘ wie auch ‚Punkt‘ oder ‚Abschnitt‘.

Und er gibt, selbst wenn man ihn im Kurzinterview befragt, nicht alles preis, was in ihm steckt:

  • Was tut ein Punkt eigentlich? Liegt er? Rollt er? Steht er? Setzt er (sich)? Setzt er sich auch noch ab? Punktet er? Inter-punktiert er? Markiert er?
  • Ob Ewigkeiten Punkte haben oder brauchen? Ob sie der einzige Punkt sind, den es nicht gibt? Frage ich mich jetzt mal vom Ewigkeitsstandpunkt aus.
  • Kann man einen Punkt in die Länge zu ziehen?
  • Was kümmert mich der Punkt von gestern? Morgen kommen sicher wieder jede Menge.
  • Steht ein Punkt herum. Machte aber keinen.

Der Punkt bringt an dieser Stelle zum Ausdruck, dass man ihn auch hier – wie immer – aus dem Kontext gerissen und missverstanden wie missinterpretiert habe. Punkt.

Springen wir weiter zum Stand:

In seiner Begriffsgeschichte stehen das althoch-deutsche ‚stantan‘ und mittelhochdeutsche ‚stant‘ für das Stehen (vom auf-rechten Stehen auf den Füßen bis zum unbewegten Stillstehen) und zum Ort des Stehens. Mittelalterlich bezieht es sich auch auf gesellschaftliche Schicht(ung)en, hinzu kommen der Stand „der Dinge“ (sei es die zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichte Stufe eines Ablaufs, sei es ein erreichter Wert, eine Menge, Größe, Höhe o. Ä.) oder der der persönlichen Beschaffenheit oder Verfassung. Der Stand kann freilich auch ein kleiner, abgeteilter, manchmal nur zeitlich befristet zur Verfügung stehender Raum sein (vom Stall bis zum Marktstand), aber auch einen großen Rückhalt bedeuten. Und auch: Im althochdeutschen ‚firstand‘ steckte gar der Verstand und der ‚urstand‘ im Sinne der Auferstehung.

Der Stand erklärte sich zu einem Kurzinterview prinzipiell nicht bereit, da er mit so Vielem in Verbindung stünde, dass man ihn, den Stand, schlicht verlöre. So gut wie alles könne man mit ihm verbinden, vom Taxistand zum Ehestand, vom Miss- zum Unverstand und weit über diesen hinaus. Lediglich über sein (ins-geheim eingestandenes) spezielles, weil tief verworrenes Verhältnis zum Punkt gelang eine investigative, daher freilich nur unsystematische Sammlung, die letztlich verdeutlichte: Einen Standpunkt zu haben scheint relativ einfach. Aber dann miteinander klar zu kommen ist wahrlich nicht einfach. Man kann sich davon einen Begriff machen:

  • Wie viele Standpunkte sind zu viel?
  • Ist ein Punkt nicht zu heftig? Wie viele brauchts zu einem Stand?
  • Doppelt der Doppelpunkt den Stand?
  • Halten Standpunkte ewig?
  • Ist ein Bindestrich ein niedergestreckter Standpunkt?
  • Tanzt der Doppelpunkt zum Standpunkt oder gar umgekehrt?
  • Spitzt man einen Standpunkt ungespitzt oder gespitzt in den Boden?
  • Der Standpunkt ist ein einbeiniger Geselle.
  • Können Standpunkte uferlos sein?
  • Spricht der Standpunkt zum Standort: Du bist mir zu teigig. Meint der Standort: Und Du mir zu punktuell! So gesehen gar nicht so einfach, einen Standpunkt zu haben. Oder gar zu bilden.
  • Wenn zwei Standpunkte aufeinandertreffen, können sie sich übersehen, sich übergehen, sie können randalieren, einander gar abstoßen, sich aber auch einander annähern, können sogar miteinander verschmelzen. Hat er (sich) dann verloren?
  • Suchen sich Standpunkte? Kann sich ein Standpunkt allein fühlen? Verliert er ohne Stand den Punkt? Wie geht es dem Punkt dann? Kann er alleine etwas – noch dazu aus dem Stand – schaffen?

Eine Art Abschlussgeschichte, die mir einen wahrscheinlich alten Standpunkt immer wieder verrückt:

Es war einmal üblich, sogar artig (der Begriff muss einem natürlich zu denken geben), „Bitte“ und „Danke“ zu sagen. Heute bedankt sich ein(e) Moderator*in bei der zur Ablieferung eines Standpunkts mit einem Dank. Woraufhin der/die Standpunktlieferant*in jetzt üblicher Weise ebenfalls dankt. Warum nicht: „Bitte, hab‘ ich doch gern getan“? (Und natürlich danke, dass Sie mich gefragt und gebeten haben). Ist ein Bedankungsritual ein Standpunkt?

 


 

Walter Goetze _ „Standpunkt“ – ein seltsames Wort

 

„Standpunkt“, das habe ich in meine Sammlung „seltsamer“ Worte aufgenommen, nämlich Worte, die gut klingen, die aber, wenn man genau hinsieht, eigentlich etwas völlig anderes bedeuten, als der Klang uns vormacht. Hier zwei weitere Beispiele aus meiner Sammlung:

 

Durchstarten: häufig im Sinne von „Herausforderungen packen“, „jetzt richtig loslegen“ verwendet. Zum Beispiel „Durchstarten mit dem neuen Team“ (ein Buchtitel), oder eine Publikationsreihe der Bundesagentur für Arbeit, mit „durchstarten“ betitelt. Aber was bezeichnet dieses Wort eigentlich? Das Landemanöver des Fliegers wird abgebrochen, der Pilot gibt nochmals Schub. Man hatte sich innerlich schon auf das Absetzen auf die Piste und das Ausrollen eingestellt, stattdessen ist man wieder in der Luft. Wo landet man jetzt? Erwischt man noch den Anschlussflug oder den Zug, der einen nach Hause bringen soll? Durchstarten ist unangenehm und definitiv kein erfreuliches Manöver. Und das möchte man mit dem neuen Team? Wohl kaum.

 

Quantensprung, etwas Riesiges, Großartiges ist gelungen. Doch was ist eigentlich ein Quantensprung? Ein minimaler und erst noch instabiler Energiesprung in einem Atom. Mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar, instabil und von kurzer Dauer. So dürfte es nicht gemeint sein.

 

Doch was ist nun mit dem Standpunkt? Geometrisch gesprochen ist es ein Objekt ohne jede Ausdehnung. Schwer vorstellbar, wie man darauf stehen kann. Aber vielleicht ist bloß der Ort gemeint, wo man steht. Mir wären allerdings Synonyme wie Gesichtspunkt, Perspektive, Betrachtungsweise lieber. Das klingt offener, weniger apodiktisch als „hier stehe ich, Punkt“.

 

Den Worten in meiner „seltsamen“ Sammlung ist etwas gemein: die umgangssprachliche Bedeutung hat sich deutlich von der ursprünglichen, fachlichen Wortbedeutung gelöst. Und: den Worten wohnt offenbar eine Kraft inne. Sie wollen etwas bezeichnen, das als stark wahrgenommen wird. Oder eher, man hat den Wunsch, etwas als stark darzustellen.

 

An dieser Stelle regt sich in mir der Spötter. Jahrelange Erfahrung als Berater liefern mir Anschauungsmaterial. Wie oft schon wurde in Workshops mit Durchstarten eine Aufbruchsstimmung im Unternehmen herbeibeschworen? Aber schon wenig später war der Schwung weg oder war gar nie in der Breite angekommen. Es sei wieder mal eine Sau durchs Dorf getrieben worden. Wie oft schon wurde mit Quantensprung etwas bezeichnet, von dem es später hieß, der Berg habe eine Maus geboren? Immerhin. Wie oft schon haben Führungspersonen in Organisationen oder in der Politik ihren Standpunkt erklärt – an den sie sich wenig später nicht mehr erinnern konnten?

 

Da holt uns halt die ursprüngliche Wortbedeutung wieder ein. Deshalb, wenn wieder einmal von Quantensprung, Durchstarten, Standpunkt klären die Rede ist, empfehle ich genau hinzusehen, abzuwarten und die Euphorie für später aufzubewahren – gegebenenfalls.

 

 

Musik: Walter Goetze _ Point of View

 


 

Antje Netzel _ Standpunkt

 

Fest – Unerschütterlich,

Nicht fest – Offen und wandelbar,

Aus dem Stand – mit ganzer Person,

Auf den Punkt – jetzt,

Ein klarer Gedanke genügt!

Woher er kam, was er bewirkt?

Frag die Stille …

 


 

Arnulf Greimel _ Mein Blick auf Stand-Punkte

 

Neulich befragte mich ein guter Freund nach meinem Standpunkt. Es ging um ein wichtiges Thema. Ich war für einen kurzen Moment verunsichert, weil ich offen gestanden zu seiner Frage keinen Standpunkt hatte und jetzt auch keinen finden konnte. Und es fiel mir keine Ausrede ein. Deswegen stellte ich meinem Freund die sehr grundsätzliche Gegenfrage, wozu man überhaupt einen Standpunkt brauche.

Bestimmt, so fanden wir, hätte es seine Vorzüge, erst gar keinen zu haben. Denn dann müsste man diesen weder einnehmen noch vertreten oder verteidigen. Es fielen uns dazu sprachliche Wendungen ein, wie „kann schon sein“, die einen sagen so, die anderen so“, oder „darüber müsste man wirklich einmal nachdenken!“

Eine variantenreiche Version wäre es auch, den Standpunkt einer dritten Person ins Gespräch zu bringen. Ein Beispiel: „Minister X findet die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn völlig indiskutabel, will aber kein Geld für eine Sanierung zur Verfügung stellen“. Plötzlich geht es um was ganz Anderes. So kann man in diesem Fall ganz darauf verzichten, sich zu positionieren. Standpunkte können auch völlig widersprüchlich sein. Dieses Phänomen tritt häufig auf, und für die meisten Leute, die widersprüchliche Standpunkte haben, stellt das überhaupt kein Problem dar..

Die  Verfügbarkeit von gut begründeten Standpunkten zu den aktuellen sozialen und politischen Themen ist für das persönliche Image und für Small-Talk Situationen von eminentem Vorteil. Man kann sie problemlos den Schlagzeilen seiner Tageszeitung entnehmen. Ich erlebe es immer wieder als eine besonders schöne Erfahrung, gefühlsmäßig voll im Einklang mit meinem Standpunkt zu sein. Mir begegnet dann in der Diskussion bei mir selbst eine nicht alltägliche innere Leidenschaft.

Allerdings dürfen wir die mögliche Komplikation nicht aus den Augen verlieren, sich argumentativ völlig zu vergaloppieren. Dann ist es wichtig, sich mit einer Strategie des „Rückzugs ohne Gesichtsverlust“ aus der Affäre zu ziehen: Sätze wie „da hast Du auch wieder recht“, „so kann man es auch sehen“ oder gerne auch „wissenschaftlich ist dieser Punkt durchaus noch strittig“ können – nach meiner Erfahrung – unmittelbar zur Entspannung der Lage beitragen. Es soll ja nicht nur darum gehen, unbedingt Recht zu haben!

Ich wundere mich immer wieder, wie naiv Vertreterinnen und Vertreter von Politik, Journalistik und Wissenschaft, die sich in die Manegen einer Talkshow haben führen lassen, dort umstandslos alles tun, um ihren guten Ruf zu verspielen. Sie reden lange ohne Punkt und Komma und reihen bis zur Verwirrung Standpunkt an Standpunkt. Sie fallen einander unschön ins Wort. Sie drehen auf und verdrehen schamlos die Standpunkte ihrer Gesprächspartner.

Wäre es nicht klüger, realistisch zu sein und sich auf „vorläufige“ oder „tendenzielle“ Standpunkte zu verständigen? Es würde der Suche nach der Wahrheit und dem  Bemühen um die Erkenntnis der Wirklichkeit die zwischenmenschliche Schärfe nehmen. Standpunkte müssen ja keine Standpauken sein!

Bestimmt haben auch Sie schon das Wohlbehagen eines gemeinsamen Standpunkts erleben dürfen. Hier ziehen wir die tiefe Freude am Einklang, an der Harmonie der Lust am Streit vor, oder dem intellektuellen Genuss am kontroversen Dialog. Wie schön die Aussage „wir haben einhellig den Standpunkt…“ sein kann, zeigt Ihnen ein kleines Aquarell, das aus einer solchen Situation spontan entstanden ist.

Es bleiben viele Fragen, die weiterführen können:

  • Woher kommt und wie wirkt eine Überdosis an Standpunkten?
  • Worauf steht so ein Standpunkt, um standfest zu sein?
  • Ist er immer mit einer klaren Perspektive und mit klaren Konsequenzen verbunden?
  • Wohin könnte es führen, wenn ich einen (oder sogar meinen) Standpunkt verlasse, um ihn von einem anderen Standort aus zu betrachten?
  • Was geschieht, wenn Stand und Punkt überhaupt nicht zusammenpassen und ich einen der beiden oder sogar alle beide verändern muss?

Doch liegt die wirkliche Brisanz des Themas noch vor uns: Wenn sich Standpunkte von Fake-Standpunkten nur schwer unterscheiden lassen oder wenn wir den richtigen Standpunkt mithilfe Künstlicher Intelligenz ermitteln, wird sich unsere Haltung zu diesem Thema möglicherweise auf einen zutiefst befreienden und zugleich  beruhigenden Satz kulminieren:

„Es ist halt wie es ist“.

Dieser Satz wurde mir früh von meiner Elterngeneration mit auf den Weg  gegeben. Ich will ihn mir in einer Zeit der Standpunkt-Diffusion bewahren. Ein Nachbar hat sich, ich weiß nicht wie, einen noch weiter führenden Satz zum Lebensmotto erkoren:

„Es kommt sowieso, wie es kommt“

Hier will ich in aller Klarheit eine rote Linie ziehen. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass es jederzeit auch anders kommen kann. Wer wollte mir da widersprechen?

 


 

Johanna Pabst _ Elferchen zu Stand-Punkten

 

Elfchen

deine Struktur

ermöglicht es mir

bewegt zu Standpunkten zu

schreiben.

 

Mensch

kann stehen

und gehen wenn

er kann und will

immer.

 

Wenn

etwas steht

dann fließt es

nicht, es steht für

immer

 

Stelen

die stehlen

dem Kern die

Schale das tut weh

verletzt

 

Dialog

mit Standpunkten

ist das möglich

viele versuchen es und

scheitern

 

Kunst

ein Augenblick

entscheidet darüber dass

ein eigener Standpunkt bleibt

jetzt

 

Standpunkt

so bewegungslos

wie kann man

das auf Dauer aushalten

tot

 

Bewegung

du bist

immer das Gegenteil

von einem Stand-Punkt

oder?

 

Leuchtturm

ohne einen

festen Stand-Punkt

wärest du einfach nur

sinnlos

 

Standpunkt

bist du

tot oder machst

du einfach nur eine

Pause

 

Baum

hier ist

es ganz klar

ohne Standpunkt fällt er

um

 


 

Doris Zölls _ Stand-Ort

 

Wir haben uns in der Stadt verabredet, doch leider haben wir uns verpasst. Da läutet das Telefon: „Wo kann ich dich finden?“ frage ich. „Nimm einfach dein Handy. Auf ihm kannst du meinen Stand-Ort sehen.“ Mir wird bewusst: Es gibt keinen Ort mehr, an dem ich nicht geortet werden kann, sobald ich ein Handy, PC oder das Auto benutze. Mein Stand-Ort ist sichtbar, überall auf der ganzen Welt zu bestimmen.

 

Ich könnte einfach alle Geräte ausstellen, mich von der Welt abschotten, allein für mich sein, doch für wie lange? Ich möchte doch zur Welt gehören, möchte in Beziehung stehen zu ihr und den Menschen. Ich möchte Freunde treffen, mit ihnen reden, mich mit ihnen austauschen. Damit bin ich in jedem dieser Momente an einem einsehbaren Stand-Ort, ich bin in der Welt sichtbar und verbunden. Diese Verbundenheit trägt jedoch auch große Gefahren in sich. Durch meinen fest gelegten Stand-Ort kann ich als der oder diejenige bestimmt werden und im schlimmsten Fall sogar verfolgt. Ich komme keinem mehr aus.

 

Ich streife die Gedanken, die dies bedrohlich erscheinen lassen erst einmal von mir ab. Im Moment bin ich noch frei. Ich lasse mich von den Vorstellungen daran, verfolgt zu werden, nicht ängstigen. Ich will mich jetzt in der Welt frei bewegen. Bewegung ist Leben, nicht stehen bleiben, nicht fest geschrieben werden. Das ist frei sein, das birgt Lebendigkeit in sich. Ich erlebe, stehe ich auf einer Brücke und schaue hinab in einen Fluss, wie er unter mir her fließt. Meine Augen suchen jetzt nicht das Ufer, nichts woran ich mich fest halte. Ich tauche ganz und gar in das Fließen ein, gehe mit  dem Strom mit, der sich in unzählige Wellen aufwirft.

 

Auf einmal wandelt sich meine Wahrnehmung. Nicht mehr der Fluss fließt, ich selbst fließe, sogar die Brücke steht nicht mehr fest, sie fließt mit mir mit. Brücke, Ich, mein scheinbar fester Stand-Ort sind zum Fließen geworden. Lebendigkeit durchströmt mich, Freude taucht auf. Keinen festen Stand-Ort zu haben, im Lebensfluss mit zu treiben, lässt alle Bedenken, fest geschrieben zu sein, verschwinden. Ich habe keinen Stand-Ort mehr. Jeder Moment ändert sich unentwegt , er wird lebendig. Das Fließen wird zum Stand-Ort. Nirgendwo halte ich mich fest, ich bin nirgendwo zu verorten,  mein Stand-Ort ist das Fließen. Das Beständige ist das Unbeständige.

 


 

Hans Herzer und Wolfram Müller _ Aufrechter Stand

 

   

Impressionen „All_Tag“ (2023)

All_Tag /

 

Walter Goetze _ Besonderer Alltag – alltägliches Besonderes (Text und Musik) /

Mechtild Beucke-Galm _ Gedanken über den All_Tag  (Text und Fotos) /

Regina Welke _  Die Schönheit im Alltag (Text, Foto und Musik) /

Doris Zölls _ Glaube nicht, dass das tägliche Tun ein Hindernis ist (Text) /

Barbara Lemke _ Heute ist All-Tag (Gedicht) /

 


 

Walter Goetze _ Besonderer Alltag – alltägliches Besonderes 

 

Sich zum Frühstück ein Müesli zubereiten, das ist ein schöner Einstieg in den Alltag. Dabei entstehen Abfälle. Soweit das Alltägliche. Der Blick in die für die Abfälle bereitgestellte Schale beendete dies ganz plötzlich. Das Besondere daran sprang ins Auge. Das Müesli wurde vorübergehend vergessen, die Abfälle wurden fotografiert. Dann wurde im Fotoprogramm ein wenig an den Reglern gedreht, dann das Bild noch elf Mal kopiert. Durch die bloße Wiederholung desselben entstand etwas ganz anderes. Interessant!

Ähnlich verhielt es sich mit dem Musikstück. Angefangen hatte ich mit einer Basslinie. Ich wollte auszuprobieren, was sich darüber so alles machen lässt. Als ich mir die Aufnahmen ein paar Tage später wieder anhörte, hatte ich Lust, das Angefangene weiter zu entwickeln.
Damals dachte ich nicht an das Thema Alltag, aber jetzt denke ich, dass es ganz gut dazu passe. Ein Bassgroove zieht sich als schier endlose Wiederholung durch das ganze Stück. Deshalb heisst das Stück auch SeGruhf. Darüber findet zwar Unterschiedliches statt, aber es ist mit der Zeit alltäglich. Mehrmals unterbrochen wird es durch eine orientalisch anmutende Melodie, das Besondere, das durch Wiederholung auch schon wieder alltäglich wird.

Manchmal nervt sich die Gitarre und äfft den Bass nach, indem sie dessen Ostinato doppelt. Immer dasselbe, immer dasselbe, sagt sie. Recht hat sie. „Ostinato“ kommt von hartnäckig, eigensinnig.Und manchmal geht die Gitarre neugierig auf Reisen und lässt sich dabei vom Gitarristen und Produzenten Nile Rodgers inspirieren. Auch das funktioniert über das Ostinato der Bassgitarre.

Das Stück ist ähnlich entstanden wie die Foto, nämlich während des Lockdowns einsam am Computer sitzend, durch immer wieder andere Zusammensetzung der einzelnen eingespielten Module. Vielleicht liegt hierin ein Rezept für die Begegnung mit dem Alltag, nämlich zu versuchen, das Bekannte immer wieder etwas anders zu sehen. Ein Beispiel: Wenn ich für meine häufigen Stadtspaziergänge eine Kamera mitnehme, ist es ein anderer Spaziergang, als wenn ich stattdessen ein Aufnahmegerät mitnehme. Und eine andere Stadt. Und jedesmal wenn ich dann mit den Ergebnissen spielerisch umgehe, ist es ein Festtag, kein Alltag.

 

 

Musik: Walter Goetze _ SeGruhf (Remix)

 

 


 

Mechtild Beucke-Galm _ Gedanken über den All_Tag 

 

Alltag – was soll daran bemerkenswert sein? Es ist doch das „Gewohnte“, das „Wiederkehrende“ und die „Pflicht“. Es ist das was getan werden muss, zu Hause und im Beruf. Es ist der sich wiederholenden Ablauf, der durch diese Arbeiten und Pflichten bestimmt wird. Für viele Menschen hat der Alltag etwas „Farbloses“, etwas „Langweiliges“.

Diesem Alltäglichen setzen sie das „Besondere“, das „Außergewöhnliche“ gegenüber, das sie am Wochenende oder in der Urlaubszeit organisieren. Was sich außerhalb  des Alltags ereignet, ist attraktiv und energetisierend. Man blickt diesem erwartungsvoll und freudig entgegen. Das können Reisen, Treffen mit der Familie und mit Freunden sein, Theater- oder Konzertbesuche oder auch ein Besuch im Europapark. In meinen Kindertagen war es das Cafe am Ende des Sonntagsspaziergangs, wo eine „Schillerlocke“ (ein Blätterteighörnchen gefüllt mit Sahne) auf mich wartete. Dieses „Besondere“ meiner Kindertage habe ich gut in Erinnerung, ganz anders als die All-Tage. An sie erinnere ich mich nur wenig.

Wenn ich mit anderen über ihren Alltag rede, dann höre ich oft von der Anstrengung, die mit seiner „Bewältigung“ verbunden ist: Es ist jeden Tag viel zu tun, die Zeit reicht nie und es passiert immer Unerwartetes, das im Alltag stört. Man ist vom Alltag erschöpft.

Von der positiven Seite des Alltags höre ich weniger, weniger von der leisen Freude darüber, dass man sich in den Alltagsdingen auskennt und die Arbeiten kompetent erledigen kann, dass man routiniert ist und dass einem Etliches gelingt.

Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, umso deutlicher wird mir, dass ich das Wiederkehrende meines Alltags mag. Der eingespielte Rhythmus tut meinem Körper und meiner Seele gut und bringt Ruhe in mein Leben. Auch wenn es „nur“ die üblichen banalen Dinge sind. Doch je länger ich darüber nachdenke, umso deutlicher wird mir, dass ich sie farbiger und lebendiger wahrnehme als ich mir das bisher bewusst gemacht habe.

Das erinnert mich an ein Koan von Joshu, einem Zen-Meister. Er wurde von einem Schüler angesprochen: “Ich ersuche Euch Meister, gebt mir bitte Unterweisung!“ Joshu fragte: „Hast du schon deinen Reisbrei gegessen?“ Der Schüler antwortete: „Ja, das habe ich.“ Joshu sagte: „Dann wasche deine Essschale.“ Da erlangte der Mönch eine gewisse Erleuchtung. Joshu lenkt die Aufmerksamkeit auf das Alltägliche, weg von dem Außergewöhnlichen. Jede Tätigkeit, so lehrt er seinen Schüler, ist es wert, mit Aufmerksamkeit und Konzentration gemacht zu werden. “Wenn du gehst, dann gehe. Wenn Du isst, dann esse“ sagen Zen-Meister.

Wenn man sich im Alltag auf jede Tätigkeit einlässt und dabei präsent ist, dann sind das Alltägliche und das Besondere gar nicht mehr so unterschiedlich. Das Alltägliche wird dann auch farbig, wie das Besondere.

Neulich bin ich durch die Fotos der letzten Jahre  gegangen. Dabei fiel mir auf, dass ich vor allem Alltägliches fotografiert habe. Ich war etwas überrascht! Offensichtlich spricht mich das Alltägliche mehr an als das Besondere. Ich sehe in vielen alltäglichen Dinge eine gewisse Schönheit. Durch das Fotografieren möchte ich genau diese Schönheit “herausholen“ und sichtbar machen. Merkwürdig, dass ich das bisher so gar nicht wahrgenommen habe.

Wenn mein Mann über den Alltag spricht, – er ist in Großbritannien aufgewachsen – dann sagt er „every day“, nicht „all day(s)“. Im Englischen liegt der Focus auf „jedem“ (einzelnen) Tag“ und nicht auf „allen“ Tagen. Auch interessant – oder?

 

 

 

 


 

Regina Welke _  Die Schönheit im Alltag

 

Für mich: den Wechsel in der Natur beobachten und genießen, ein liebevoller Umgang, leckeres Essen ein gutes Buch und vor allem Musik, hören, selber spielen und manchmal auch komponieren

 

 

Musik: Regina Welke _ Renata

 


 

Doris Zölls _ Glaube nicht, dass das tägliche Tun ein Hindernis ist

 

Glaube nicht, dass das tägliche Tun ein Hindernis ist.

Es gibt keinen Sinn des Lebens außerhalb des täglichen Lebens.

– Dogen Zenji –

 

Es gehört zum Menschsein dazu, dass er sein Leben sinnvoll und erfüllend leben möchte. Sein Leben soll genährt sein von einer sinnhaften Arbeit, reich an vielen lieben Menschen an seiner Seite, in Frieden soll es sein, und, und, und. Ich könnte die Liste endlos weiterführen, sie füllen mit all dem, was mir gut tut, was mir gefällt. So lebt es in mir als eine Vorstellung von einem erfüllten Leben.

Doch hat dies etwas mit der Wirklichkeit zu tun oder ist das nur ein Traum?

Wird nicht unser Alltag bestimmt vom Aufstehen, sich waschen, frühstücken, in die Arbeit gehen, dazwischen essen, wieder arbeiten, manchmal Missstimmungen mit den Mitmenschen aushalten, erschöpft nach Hause kommen, am Abend die anderen Aufgaben erfüllen, warten auf das Wochenende, auf den Urlaub, wo ich endlich dem Alltagstrott entrinnen kann. Der Alltag ist in den meisten Fällen bestimmt von wiederkehrenden Arbeiten, oft auch begleitet von Sorgen und Nöten.  Die wenigen Glücksmomente heben den Trott nicht auf.  Bleibt uns dann nichts anderes übrig, um erfüllt zu leben, aus dem Alltag auszusteigen, etwas Besonderes, Schönes, Bereicherndes zu suchen und zu finden? Die Freizeitindustrie bietet uns dafür unendliche Möglichkeiten an.

Doch Dogen Zenji sagt: „unser Glück hängt eben nicht vom Außen ab und  ist nicht außerhalb des alltäglichen Lebens zu finden. Sinn ist nicht  in den Momenten zu erleben, in denen mir das zukommt, was ich mir vorstelle, was ich gerne hätte. Sinnhaftigkeit finde ich gerade im alltäglichen Tun. Wehre ich mich gegen das, was ist, erlebe ich den Alltag belastend. Nehme ich jedoch das, was sich gerade lebt, radikal als Ausdruck meines Lebens und als entscheidend, erfahre ich mein Leben vollkommen, im wahrsten Sinne des Wortes. Es kommt ganz und gar zu seiner Fülle. Doch was geschieht, wenn es mir nicht gefällt, ich etwas anderes möchte?  Nur in meinen Gedanken kann ich mir denken, dass es etwas anderes gibt als das, was ist. Das Jetzt ist da, so wie es ist. Ich kann nicht das, was das Leben mir gerade unter die Füße legt, weg haben wollen. Es ist und verlangt von mir, mich darauf einzulassen. Lehne ich es jedoch ab, leide ich. Nehme ich es als entscheidenden Moment meines Lebens an, erfüllt es mich. Doch nur ein Hauch von : „ich mag nicht,“ oder der Vergleich in meinen Gedanken mit etwas, was es im Moment nicht gibt, lässt eine bleierne Schwere in mir entstehen und ich fühle mich überfordert.

Lasse ich mich hingegen auf den Alltag ein, wird er zum Feiertag und der Feiertag zum Alltag.

 


 

Barbara Lemke _ Heute ist All-Tag 

 

Alltag

Heute

immer ist Alltag

immer ist Heute

Heute ist das Ist,

das Sein.

Gibt es einen guten oder einen schlechten Alltag

gibt es ein gutes Heute das eigentlich ein gestern war

oder das Morgen sein sollte?

Wie mache ich das

dass das Heute ein Tag zu sein scheint wie alle Tage.

Wie geht das?

Vielleicht indem ich mein Denken wiederhole

wieder-hole?

Indem ich mein Fühlen wiederhole

wieder-hole?

Wie wiederhole ich?

Wie hole ich wieder?

Indem ich mich alt, gebraucht, unfrisch denke?

Denken kann ich auch immer nur Heute.

Wen oder was finde ich vor

Heute?

Mich

mein Da-sein in meinem So-Sein.

Immer.

Und

wenn ich mein Dasein, mein Sosein bedenken will

rinnt es mir davon

wie Butter aus meiner warmen Hand.

Übrig bleibt Heute.

Heute als Raum ist immerwährend.

Heute kann nicht vergehen.

Heute ist All-Tag.

Film- und Musikbeiträge für dialogkultur-ffm

Im Rahmen von verschiedenen „Produktionen“ für dialogkultur-ffm wurden u. a. auch Filme und kleinere Musikbeiträge erstellt und veröffentlicht. Diese  Filme und die z. T. auch darin integrierten Musikstücke sind Improvisationen oder auch Eigenkompositionen der beteiligten Musiker*innen. Wir stellen diese jeweils bei YouTube auf den Kanal von dialogkultur-ffm. Sie sind mit der Webseite www.dialogkultur-ffm.de verlinkt. Diese Beiträge können aber auch direkt dort eingesehen und abgespielt werden. Die Rechte liegen bei den Musikern und den Produzenten.

 

 

 

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Lesung von Hans G. Bauer und Fritz Böhle: „Haarige Kunst -…“ (2022)

Hans G. Bauer und Fritz Böhle lesen aus ihrem Buch: „Haarige Kunst – Über den Eigensinn des Haars und das Können von Friseuren“

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Impressionen „Augen_Blicke“ (2022)

Augen _ Blicke /

 

Eva Zinke _  Augenblick (Gedicht und Fotografie eines Bildes) /

Johanna Pabst _ Ein neuer Genuss des Augen_Blickes (Text und Foto) /

Barbara Lemke _ Eine Frau trägt eine Rose über die alte Brücke in Heidelberg (Gedicht) /

Andreas Naumann _  Kyudo (Foto) /

Doris Zölls _ Ein Augenblick (Text) /

 

 


 

Eva Zinke  _ Augenblick

 

Augen blicken an

Senden geheime Botschaft

Herausforderung

 

 

 


 

Johanna Pabst  _ Ein neuer Genuss des Augen_Blickes 

 

„Jetzt sollten Sie mal zu einer Augenärztin gehen“ sagt meine Optikerin, die mich seit Jahren gut betreut, immer wieder mit ihrer tollen Apparatur andere Dioptrien feststellt und meine Brillengläser fachgerecht angepasst.

„Grauer Star“ diagnostiziert meine Augenärztin und endlich verstehe ich, warum mich seit einiger Zeit die Autos nachts beim Fahren so sehr blenden, dass ich fast nichts mehr sehe. Und ab und zu finde ich auch die Kurven um meine Zimmerwände nicht mehr gut und remple diese an. Dies nehme ich so zur Kenntnis, wie ich mich halt manchmal wundere, wenn beim Älterwerden wieder mal etwas anders wird als es vorher war.

Was bedeutet denn nun „Grauer Star“? Es ist eine Trübung der Augenlinse, die diese „grau“ werden lässt. Und „Star“? Da diese Krankheit zu Blindheit führen kann, bekommen die Menschen dann einen „starren“ Blick. Keine so erstrebenswerte Perspektive.

Und was bedeutet „Katarakt“, wie der Graue Star auch genannt wird? Laut Wikipedia dachte man (früher?), dass etwas „vom Gehirn herabtropft“ und die Linse dadurch getrübt wird.

Na super! Ich denke bisher immer: wenn ich mein Gehirn einsetze, habe ich mehr Durchblick. Jetzt hat es irgendwo ein Leck und trübt meinen Blick?

Blöd ist nur, dass ich (und sicher viele andere auch) die langsame Trübung gar nicht wahrnehmen, weil man ja gar keinen Unterschied mehr sehen kann, wenn es beide Augen betrifft.

Diese getrübten Linsen kann man in den meisten Fällen durch ein künstliches Linsenimplantat ersetzen. So geschieht es. Ich habe mich für die ambulante Variante entschieden: Augenklinik, örtliche Betäubung, man sitzt fast 1 Stunde in einem hübschen, grünen OP-Kittel, Plastik-Häubchen um die Haare, Plastik-Überzieher für die Schuhe und bekommt mehrmals eine Betäubung in das eine zu operierende Auge getropft.

Die Vorstellung, dass meine Augenlinse zerkleinert und entfernt und eine neue eingesetzt wird, beflügelt meine Phantasie sehr, sodass ich mir dann doch eine Beruhigungstablette geben lasse.

Augen-OPs am Fließband … irgendwann sitze ich „vorne“ und komme dran. Ein paar Vorbereitungen, ein netter Arzt und dann geht es los und ist wunderschön: es erscheint immer wieder eine andere intensive Farbe und ich bin ganz neugierig, wie es weiter geht: lila – gelb – blau – grün – rot wunderschön! Und es tut überhaupt nicht weh. Nach ca. 20 Minuten bin ich wieder draußen. Das Auge ist erst mal zugeklebt … nach einer Stunde Warten wird es kurz nochmal untersucht, ob alles ok ist und gleich wieder zugeklebt.

 

 

Am nächsten Morgen gehe ich super neugierig zu meiner Augenärztin hier um die Ecke und sie öffnet das Auge: uiiii wie hellllllll und wie bunt!!! Ganz viele Farben sind zu sehen.

Ach, so weiß ist mein Regal zuhause und ach, dieses Bild hat einen blauen Farbtupfer, statt einem grünen ….. ich bin überwältigt! Dann kneife ich das „neue“ Auge zu und schaue mit dem „alten“: bei diesem Blick ist alles mit einem starken gelbgrauen Schleier überzogen, bei dem anderen phantastisch bunt. Welche ein Geschenk!

Ich soll keine Brille mehr tragen und da ich die Augen 4 Wochen lang jeden Tag tropfen muss, gibt auch meine geliebte Wimpertusche keinen Sinn. Zurück zur Natur: mit Maske sieht man schon meinen roten Lippenstift nicht mehr, nun sind auch die Augen nicht mehr geschminkt und die hübsche Brille, als Schmuckstück für die Augenrahmung ist nun auch nicht mehr da. Mich an diese Veränderung zu gewöhnen, war eine echte Herausforderung!

Nach der tollen ersten OP bedauere ich es sehr, nur zwei Augen zu haben. Nach der zweiten OP  Wochen später bin ich froh, nur zwei Augen zu haben. Beim Fließbankwarten, erzähle ich allen, wie toll die OP ist und alle kommen raus und würden mich am liebsten umarmen, so schön war es für sie. Das Personal ist begeistert: „Sie sind die erste die so positiv von der OP spricht, Sie machen allen Mut…“ Nur meine eigene OP ist dann dieses Mal leider nicht mehr so schön bunt. Es bleibt halt nichts wie es mal war.

Als dann das zweite Auge am nächsten Morgen von der Binde befreit wird, bin ich erst mal enttäuscht: ups, dass sieht ja gar nicht so gut wie das erste. Mein ehemaliger Mann, Biologielehrer, macht mir klar, dass das ganz normal ist, da das Gehirn nun ein bisschen Umstellungszeit braucht. Also doch wieder das Gehirn.

Und dann nach drei Tagen ist es so weit: es ist wunderbar, die Welt so klar, so weit, so bunt, so farbenfroh, so hell zu sehen! Und da man mit der künstlich eingebauten Linse auch die Sehschärfe korrigieren kann, brauche ich in Zukunft nur noch eine Lesebrille.

Mit den zwei wunderbaren neuen Linsen sehen meine Augen sehr gut und wie mir viele Menschen vorher schon prophezeit haben: sehe ich dann auch einige andere Stellen, zum Beispiel in meiner Wohnung, die doch mal wieder geputzt werden sollten, oder ein paar meiner Kleider, die ein paar abgetragene Stellen haben.

Nichts desto trotz bin ich sehr dankbar für die Möglichkeit der künstlichen Linsen und genieße jeden Augenblick mein helles, farbenfrohes Leben und den viel genaueren Blick.

 


 

Barbara Lemke _ Eine Frau trägt eine Rose über die alte Brücke in Heidelberg

 

Glaubt sie

Sie sei unsichtbar

Für schauende Augen

Wie sie da läuft

In sich

gekehrt

Verzückt

leise lächelnd

selig gar?

Oder schwebt sie nicht vielleicht?

Mit dieser Rose

Dieser zauberhaften Blüte

in ihren alten verarbeiteten  Händen

Beschützt

Behütet

gehalten.

Erkannt von der Seele

Der schönen,

Der offen verborgenen.

Im Mit-Sehen

Unerkanntes

lächelndes Mit-Sein.

 

 

 


 

Andreas Naumann  _ Kyudo

 

 

Andreas Naumann: Kyudo seit 1995, 2. Dan

 


 

Doris Zölls  _ Ein Augenblick

 

Nein, im Augenblick schaue ich nichts an. Ich betrachte auch nichts, was sich gerade vor mir auftut. Meine Augen ruhen auf keinem Ding und keine Reize werden hervorgerufen, über die mein Geist nachdenken, sich eine Meinung bilden kann.

Ich kann nicht einmal sagen, dass sich mir im Augenblick etwas zeigt. Im Augenblick gibt es keinen, der etwas zeigt. Wie ein Blitz, der die Dunkelheit durchschneidet, eröffnet der Augenblick sich als Leben. Werde ich mir des Blitzes bewusst, ist er schon längst vom Himmel verschwunden. Der Blitz ist vorbei. Es bleibt nur die Erinnerung.

Der Augenblick wirft mich aus jeglicher Zeit. Vergangenheit, Zukunft, ja sogar die Gegenwart haben in ihm keinen Platz. Die Zeiten tun sich erst wieder auf, wenn meine Gedanken, das Erlebte erfassen. Mein Geist will begreifen, was geschah.

Im Grunde genommen ist der Augenblick immer da und dennoch nehme ich ihn nur in den seltensten Fällen wahr, denn zu viele Gedanken, Bewertungen liegen darauf, damit ich ihn erkenne. Tut er sich mir auf,  ist er wie ein Geschenk, das mir unverhofft überreicht wird. In einem Augenblick kommt mir die Wirklichkeit zu, nimmt mich ein und erfasst mich ganz und gar. Kein Gedanke, kein Gefühl schiebt sich zwischen mich und dem Erleben. Das  Leben und ich sind eins. Wirklichkeit und ich sind eins. Ich bin der Augenblick, ich bin wirklich.

Manchmal möchte man meinen, der Augenblick wäre ein Punkt. Doch das ist eine Täuschung. Einen Punkt kann ich festlegen, er hat einen Ort, wo er sich zeigt. Der Augenblick jedoch hat weder Zeit noch einen Ort. Er ist unmittelbares Sein, das sich im Moment des Erlebens nicht beschreiben lässt, denn dann wäre er nicht mehr das Erleben selbst, sondern eben nur eine Beschreibung. Mein Geist macht sich das Erleben zu seinem Objekt, analysiert es, ordnet es ein, bestimmt und reflektiert es. Damit bekommt der Augenblick eine Zeitdimension, die er jedoch im Geschehen selbst nicht hat. Damit geht  dem Augenblick der Zauber des Wunders  verloren. Er verblasst und wird nur zu einem Abbild. Obwohl der Augenblick mich verzaubert, mich über mich selbst hinausweist, hat mein Ich große Angst vor ihm. Im Augenblick hat mein Ich keine Kontrolle über das Erlebte, es muss sich dem Gegebenen hingeben. Es ist wie der Sprung in einen Brunnen, bei dem ich nicht weiß, wo ich aufkomme.

Mein Ich  versucht daher, dem Augenblick einen Ort zu geben und wenn es nur das  Blinzeln eines Auges ist, das es ermessen und verorten kann. Damit will es sich versichern, ein Augenblick wäre kurz. Es bettet ihn in die Zeit ein, um scheinbar die Bestimmung und Herrschaft über das Leben in Händen zu halten. In dieser Illusion fühlt es sich geborgen, dort ist es beheimatet.  Der Augenblick ist jedoch nicht händelbar, er ist das Leben, das uns über unsere Grenzen hinaushebt, uns teilhaben lässt am Unendlichen. Da uns jedoch diese Grenzenlosigkeit Angst macht, verschließen wir uns ihm sogleich, wollen unsere Unsicherheit verbergen, und lieber uns unserer Illusion überlassen, das Leben ausrichten zu können.  Damit grenzen wir jedoch das Leben auf unser kleines geprägtes Verständnis ein.

Den Augenblick zu erleben, erfordert von uns auch, dass wir unsere Identitäten aufgeben, uns selbst verlieren, uns in unbekannte Gewässer begeben. Kindern fällt dies noch leicht. Sie haben sich noch nicht mit all den Zuordnungen, die sie von Außen bekommen und sich selbst geben, identifiziert. Sie erleben das Leben noch als Geschenk. Sich hinzugeben und nicht selbst zu machen, verlangt von unserem Ich Macht, Können und Selbstbestimmung abzugeben. Es ist dem Sterben gleich, bei dem uns auch alle Macht genommen wird. Daher ist es für uns eine große Herausforderung, den Augenblick zu leben, ihn zu genießen und das Leben unmittelbar zu leben. Das Leben ist der Augenblick. Er verlangt von uns nichts anderes als uns einzulassen auf das, was genau hier und jetzt ist, ohne Vorliebe und Abneigung.

 

Artikel „Wertschätzende Erkundung – 30 Jahre OE-Supervision“ (2022)

Im beiliegenden Artikel von Arnulf Greimel u. a. werden Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Zusammenarbeit einer OE-Supervisionsgruppe zusammengefasst, die sich seit 30 Jahren – im Interesse der kollegialen Beratung – regelmäßg trifft. Der Artikel dokumentiert den Entwicklungsprozess dieser Gruppe und benennt wesentliche Merkmale und Faktoren des Erfolgs. Die beteiligten Mitglieder benennen ergänzende Aspekte, die ihnen persönlich besonders wichtig sind.

Zum Artikel 

Impressionen „Ernte_Dank“ (2021)

Hans Herzer / Wolfgang Schoen / Peter Schmitt

Ein Interview mit Gerhard Weinrich _ MainÄppelHaus Lohrberg _ Ernte Dank (Film)

 

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Anregungen und Gedanken von Wolfgang Mecklenburg zum Thema Erntedank (Text)

Zum Beitrag

 

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Impressionen „Garten_Kultur“ (2021)

 

 

Garten_Kultur

 

Wolfgang Poth  _  Mensch sein heißt Gärtner sein /

Hans G. Bauer  _  Alles (mehr als) Kompost /

Renate Kletzka  _  Ein Sommer im Garten /

Arnulf Greimel  _  Organisationsentwicklung mit Gartenkultur /

Jupp Bergmann / Waltraud Latussek  / Hans Herzer _  Fischbacher Brunnen /

Hans Herzer / Simon Rahause _ … im Garten des Himmlischen Friedens /

 

 

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Wolfgang Poth  _  Mensch sein heißt Gärtner sein

 

 

Mensch sein heißt Gärtner sein.

All meine Schmerzen kann mein Gartenspaten heilen.

Pass dich dem Schritt der Natur an; ihr Geheimnis heißt Geduld.

Blumen sind das Lächeln der Erde.

 

– Ralph Waldo Emerson –

 

 

Herrgott, mach, dass es jeden Tag von Mitternacht bis drei Uhr morgens regnet, aber versteh mich recht, mäßig und warm, damit das Wasser in die Erde einsickern kann, lass es aber nicht auf Nelken und Lavendel, Steinkraut, Heideröschen und andere Blümlein regnen, die dir, o Herr, in deiner unendlichen Weisheit als trockenliebende Pflanzen bekannt sind – wenn du willst, merke ich es auf einem Blatt Papier vor; die Sonne möchte doch scheinen, aber nicht überall hin (weder auf den Spierstrauch und Enzian noch auf die Funckia oder das Rhododendron) und nicht übermäßig stark; dann möchte es viel Tau und wenig Sturm geben, genügend Regenwürmer, keine Blattläuse, Schnecken und Mehltau, dafür einmal in der Woche verdünnte Jauche und Taubenmist. Amen.

– Karel Čapek, Das Jahr des Gärtners –

 

 

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Hans G. Bauer _  Alles (mehr als) Kompost

 

Ich sitze im Garten, und

… höre eine Radiosendung, in der ein mainfränkischer Mundartdichter über seine Wahrnehmungen beim Sitzen im Garten erzählt, und dabei den Satz sagt: Ich höre das Gras wachsen. Zum ersten Mal höre ich ihn, diesen Satz, nicht negativ, nicht unterstellend, sondern ganz neu und bewundernd: Ich sitze da und höre das Gras wachsen.

[Ich weiß nicht, wie wichtig es ist, anzufügen, dass ich, weil dort geboren, auf irgendeine Weise noch immer unterfränkisch denke. Plötzlich klang es neu, sprachlich wie gedanklich].

 

Ich sitze im Garten, und

… mir fällt der Friedhofssatz ein: Er/sie ist nicht mehr unter uns.

Denke an Kompost.

Und denke, dass dann, wenn ich einmal Kompost bin,

ich gern sagen würde:

Jetzt bin ich endlich unter euch.

 

Ich sitze im Garten, und

… sehe die Frage der Tulpe, warum wir sie just dorthin gepflanzt haben.

Und höre den Stein, dem sie beigewachsen war, freudig-verwundert darüber, warum sie sich just bei ihm so reckt …

Stein, Tulpe und ich, während wir so beieinandersitzen, vermuten, und gute Vermutungen dauern ja, dass wahrscheinlich nur Pfeifenraucher das so wahrnehmen.

 

Manchmal verlasse ich den Garten und fühle mich sehr auf mich zurückgeworfen.

Sitze im Arbeitszimmer …

… wo man weniger regenwürmig-geringelt denkt, sondern gedankenwürmig-präzise, wissenschaftlich-akademisch etwa. Hier oben kommen einem, so als hätte man noch Gedankenkrümel unterm Fingernagel mitgebracht, Fragen an das Wesen von Wörtern, Begriffen. Denkt an Komposita, beispielsweise, an Komponenten, Komparative, Komposition … „Komp“ ist, rechnergestützt betrachtet, gar kein Grundwort. Aber jedenfalls eine Art von Anstiftung für Verschiedenstes.

Da will ich sofort wieder zurück in den Garten, aber

… bleibe, wie die Tulpe hinterm Stein, plötzlich hängen an dem Bild, das mir an meinem Schreibtisch schon seit vielen Jahren gegenüberhängt. Pfeifenverräuchert mittlerweile. Dominique, die Frau des Schweizer Schriftstellers Otto F. Walter, hat mir das Foto mit dem Text von ‚Ötti‘ einst geschenkt.

Etliche Male durften wir diesen provencalischen Dschungelgarten und das Steinzeit-Borrie „Le Prince“ mit ihm und Dominique teilen. Den Platz, an dem er oft saß, um auch diese Zeilen zu schreiben:

S’gäb scho / no z’tue /scho füfi / und no immr / kei Anarchie / i dr Gägend / wird’s schattig / s‘ Fäscht /fast verbi / im Land / immer no / Rue / Do go-n-i / dänk / gschider / öppe de / wider / em Waud / zue.

 

Besser schnell zurück in den Garten jetzt … ‚s‘ gäb‘ ja schließlich was zum Wiederlesen von „Ötti“, endlich mal wieder: „Wie wird Beton zu Gras“. Das er 1988 geschrieben hat, mit dem Untertitel: „Fast eine Liebesgeschichte“. Wider die knechtenden Mächte, für die Kraft der Liebe. Zugewidmet seiner späteren Frau Dominique.

Mittlerweile sind beide ‚unter uns‘…

 

Wie gut, jetzt wieder beim Stein zu sitzen, der noch immer freudig wärmt, und bei der Tulpe, die sich noch immer reckt.

 

 

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Renate Kletzka _  Ein Sommer im Garten

 

Der Sommer 2020 war anders, geprägt von der Corona-Pandemie war der Lebensradius klein geworden. Alle künstlerischen Projekte für diese Zeit waren abgesagt. Die Zeit hatte plötzlich einen langsameren Takt und mein Garten wurde zum Aktions- und Schutzraum.

Es entstanden Bilder, die näher an der Natur und der Realität sind als meine Arbeiten zuvor. Eine ungewohnte Farbigkeit hat sich eingeschlichen…Violett, Pink und Rosa…Grüntöne in allen Schattierungen …… Farben, die meinen Garten ausmachen, die jedoch davor selten in meine n Werken zu finden waren. Meine Ängste zu farbig, zu lieblich … ja kitschig zu werden, verloren sich im Farbenrausch. Ein Wagnis und ein Spiel, mein Herz war dabei. Das Ergebnis hat mich selber überrascht, aber auch erfreut, so dass ich es in einer Broschüre festhalten und teilen wollte.

 

 

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Arnulf Greimel _  Fichtenfall – Organisationsentwicklung mit Gartenkultur

 

Wir hatten uns schon so aneinander gewöhnt, unser Garten und wir. Der wilde Vorgarten Richtung Norden, mit dem Vielerlei, das da durcheinander und nebeneinander lebt, eine Mischung aus Allgäu, Schwäbische Alb, Piemont und Provence. Dazwischen haben Schwemmholzteile, Felsbrocken und Steine ihren Platz gefunden, die wir immer aus verschiedenen Gegenden mitbringen. An der Hauswand halten sich holzige Rosenbüsche fest und streben vehement nach oben. Eine wuchernde Waldrebe beschenkt uns im Mai oder Juni mit Blüten und gibt der Garagenwand ihren Sinn. Und natürlich steht da die Platane vor der Türe, die im Winter so tut, als wäre sie nicht da, im Sommer aber bestimmt sie machtvoll das Geschehen.

Auf der anderen Seite, Richtung Süden, kämpft das Gras gegen Moos und Unkräuter an, es gibt Reservate auf Zeit für Wiesenblumen, bevor der Mäher immer wieder mal die Illusion eines Rasens erweckt, die wir gerne wieder vergehen lassen. Irgendwo unter dem Efeu muss noch ein Zaun sein, das Stück Mauer versucht er ebenfalls zu überwältigen. Man muss dem maßlosen Kerl immer wieder mal die Grenzen aufzeigen. Einige Büsche und ein überdachter Platz geben dem Ganzen markante Schwerpunkte und Lebensräume für Mensch und Tier,Bade- und Futterplätze für die Vögel eingeschlossen. Dach und Schatten finden wir unter dem gespreizten roten Ahorn. Eine Glyzinie hangelt sich an der Dachrinne entlang, und da und dort hat sie schon begonnen, ihren Tatendrang und ihre Sprengkraft unter Beweis zu stellen. Die Buchsbaum-Hecke aber, hinter der in wilder Ordnung viel Grün und einige Blütenstauden wachsen, sie kann als einzige einen Kulturstatus für sich beanspruchen: sie ist aus selbst gezogenen und gefundenen Setzlingen über die Jahre herangewachsen und zurechtgestutzt worden, und wir tun alles, um sie nicht dem Zünsler zu überlassen.

Der ganze Garten, das Haus, wir selbst: alles wird überragt von einer riesigen Fichte. Sie kann einen mächtigen Schatten werfen und kleine Zapfen verstreuen, und sie ist hier schon viel länger zuhause als wir. Sie gräbt ihre Wurzelwülste breit in die Grasfläche hinein und sendet uns laut und leise ihr vertrautes Waldesrauschen. Und ja, sie lenkt unsern Blick nach oben zu den Wolken und in den Himmel.

An Abend des 9. Februar ist unser Blick sehr besorgt nach oben gerichtet: Die Ausläufer von Sturmtief Sabine haben uns erreicht. Unsere Fichte beugt sich immer wieder tief gen Osten, aber sie federt die mächtigen Stöße des Orkans stetig ab. Als wir am Morgen danach in den Garten hinaus schauen, ist der Sturm noch stärker geworden, und die riesige Fichte hat ihm widerstanden. Draußen ist es gespenstisch düster, es regnet und die Wolken jagen heftig über den Himmel. Ich sitze am Fenster, um mir das dramatische Geschehen draußen anzusehen. Als die riesige Fichte fällt, höre ich hinter der Fensterscheibe nur ein Rauschen und einen dumpfen Aufprall – und dann atemlose Stille. Irgendwann sage ich: „das war unser Baum“. Und dann stürzen wir nach draußen.

Im Garten hat die Fichte im Fallen eine Lücke zwischen den Häusern gefunden. Draußen auf der Straße liegt sie quer, hat die Gartenzäune durchschlagen und das Haus der Nachbarn gegenüber knapp verfehlt. Ein Glück, niemand ist zu Schaden gekommen! Die Feuerwehr kommt mit großem Gerät und räumt die Straße frei. Unser Baum ist enthauptet, seine Spitze liegt zerteilt längs der Straße, sein Rumpf hat sich zwischen Sitzplatz und Büschen ausgebreitet und zur Ruhe gelegt. Den Garten, wie wir ihn kennen, gibt es nicht mehr.

Das Abenteuer, die Anatomie der Katastrophe zu besichtigen, hält uns längere Zeit in Atem. Zwei Tage dauert es, bis der Riese in seine Einzelteile zerlegt und einigermaßen zur Seite geschafft ist. Ganz schön viel Holz. Dass ein einschneidender, viel gravierenderer Einbruch sich gleichzeitig schon längst auf den Weg zu uns gemacht hat, ist uns in diesen Tagen nicht bewusst: Hundert Kilometer östlich in Gauting bei München hat sich zehn Tage zuvor die Corona-Pandemie niedergelassen und in Deutschland Fuß gefasst. Als sie auch in unserer Stadt ankommt, können wie sie weder sehen, noch hören, noch riechen. Sie ist gekommen, um für lange Zeit zu bleiben. Heute, 16 Monate später, sind wir der Corona-Hotspot in Bayern.

Was sich mit dem Fall der mächtigen Fichte für uns verändert hat, wird uns erst allmählich bewusst. Es fehlt uns etwas, das wir nicht ersetzen können. Das Rauschen ist verstummt. Die Sonne bricht ganz ungewohnt zu uns herein und plötzlich sind wir dem offenen Blick der Nachbarn ausgesetzt. Die Bruchstelle hat den Verfall offengelegt, den der Efeu gnädig verdeckt hatte. Durch den Garten verläuft eine Schneise, an deren Ursprung der abgesägte Baumstumpf sich plötzlich wieder aufgerichtet hat. Klar ist: es muss etwas geschehen. Es kann und wird nicht so bleiben, wie es ist. Und damit beginnt ein Prozess des Abschied Nehmens, der schmerzlich ist. Er lässt sich lange Zeit, um uns dann, aus unserer Trauer heraus, in eine neue Perspektive, einen neuen Entwurf hinein zu führen. Unsere Vorstellung von der Zukunft unseres Gartens entwickelt sich erst Schritt für Schritt, solange das Alte noch abgeräumt und in Teilen zerstört wird. Ein Ungetüm durchbricht den Zaun, walzt die Pflanzen nieder, frisst sich durch den Baumstumpf und die Wurzeln unter der Wiese.

Was räumen wir gleich mit ab? Was soll bleiben? Was wird verpflanzt und gerettet? Eine Brache ist entstanden, ein leerer Lebensraum weckt unsere Ideen und Vorstellungen. Was könnte Garten 2.0 nach dem Tod der riesigen Fichte sein? Wie könnte er gestaltet werden, in guter Verbindung zu den Garten-Gewächsen, die schon begonnen haben, sich in den frei gewordenen Raum hinein zu strecken? Und wo können sich Lieblingsplätze eröffnen und Räume der Begegnung etablieren?

Wo eben noch das Loch der Zerstörung klaffte, finden ein Baum, einige Büsche und viele Stauden ihr Zuhause, werden mit neuer Anmutung und neuen Perspektiven ins Gebliebene integriert. Und gleich wollen sie stabilisiert und versorgt werden. Eine frische, bunte Vielfalt ist entstanden, und wenn wir Glück haben ein harmonisches Ganzes, das lebt und sich weiter entwickeln wird.

Es stimmt schon: Gartenkultur kann wie Organisationsentwicklung sein. Ein Change-Prozess, der Energie, Struktur und sorgsame Begleitung braucht, aber auch viel Geduld, und der von Kreativität lebt. Zum Beispiel von der wunderbaren Idee (nicht meiner), anstelle der Bresche, die der Baum in den Buchs gerissen hat, einen aus Steinen gefügten Platz zu gestalten, der den Zugang zum Staudengarten eröffnet, der die Wärme des Tages speichert für uns und am Abend die letzten Sonnenstrahlen einfängt.

Wie in der OE braucht es für die Umsetzung solcher Highlights eine Fachperson mit Kultur und schöpferischem Geschick. Wir haben sie gefunden. Schau her: Er sieht gut aus, unser neuer Garten, es ist gut so. Und es kann weiter gehen.

 

 

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Jupp Bergmann / Waltraud Latussek  / Hans Herzer _  Fischbacher Brunnen

 

 

 

Römischer Brunnen

 

Auf steigt der Strahl und fallend gießt

er voll der Marmorschalen Rund,

der sich verschleiernd, überfließt

in einer zweiten Schale Grund;

die zweite gibt, sie wird zu reich,

der dritten fallend ihre Flut,

und jede nimmt und gibt zugleich#

und strömt und ruht …

 

– C. F. Meyer –

 

 

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Hans Herzer / Simon Rahause _ … im Garten des Himmlischen Friedens

 

Geschichte

„ … wurde der Park am 7. Oktober 1989 als Frühlingsblumengarten eröffnet. Schon wenige Wochen darauf erhielt er im Gedenken an das Tian`anmen-Massaker vom 4. Juni 1989 seinen heutigen Namen Garten des himmlischen Frieden.

Struktur

Zentrales Element des 4.000 qm großen und von einer Mauer umfassten Parks ist der asymmetrische verzweigte Jaspisgrüne Teich. Hinter dem löwenbewachten Haupttor führt über ihn die Brücke des halben Bootes zum rechteckigen Wasserpavillon. Auf dessen anderer Seite zieht sich die Galerie des Duftenden Wassers am Teichufer entlang und endet schließlich am quadratischen Spiegelpavillon. Über die Zick-Zack verlaufende Jadegürtelbrücke gelangt der Besucher zum Nordufer. Nach Westen bietet sich von der Brücke ein Blick auf denen Felsen mit Wasserfall. Den Südteil des Gartens – jenseits der Wasserpavillons – beherrscht ein Hügel, auf sich der Pavillon im schimmernden Grün erhebt.

Daneben verteilt sich im Park eine Vielzahl von Pflanzen, Sträuchern, Felsen, Steinen, Wasserfällen oder Schriftzeichen. Ihre Anordnung  wurde nicht dem Zufall überlassen, sie spiegelt vielmehr verschiedene Bezüge – insbesondere zur chinesischen Symbolsprache – wider.“

(Auszug aus https://de.wikipedia.org/wiki/Garten_des_Himmlischen_Friedens)

 

 

 

 

 

Impressionen „Übergänge_Zwischenräume“ (2020/21)

Impressionen 3

Übergänge _ Zwischenräume

 

Wolfgang Schoen / Hans Herzer  (Fotos)

Übergänge _ Zwischenräume_ am Main entlang _ über den Main hinweg

 

Mechtild Beucke-Galm (Text)

Übergänge und Zwischenräume – Zeiten und Orte des „Zwischen“

 

Renate Kletzka (Bilder)

Collagen

 

Impression 3 Übergänge_Zwischenräume

Impressionen „November_Blues“ (2020)

Sebastian Pieper_Klavier

November Blues – Klavier

 

Jupp Bechtel_Fotografie

 

Mechild Beucke-Galm_Fotografien

 

Hans Herzer_Auswahl Gedichte

Flammender Herbst *

Auf den eben gefallenen Blättern

glänzte die Sonne im Herbst,

taucht` ihre rotbunten Wangen

in ein bezauberndes Licht.

Das leuchtete auf

in sich steigerndem Ton

bis der Waldpfad selbst,

auf dem ich ging,

wie eine einzige Flamme erschien.

 

Der Herbst ist da *

Heut` ist die Welt so kahl und kalt,

der Nordwind weint und stöhnt.

Und in den glitzernden grauen Wiesen

dringen die Stimmen

ungezählter Heuspringer

murmelnd und tief an mein Ohr.

Einmal hier und einmal dort.

Und ich weiß:

der Herbst,

dieser kühle Künder des Schnees ist da.

Vor meiner Tür

In einer kalten Nacht im Herbst

erhoben Heimchen ihrer Stimmen unverweilt.

Ich lausche angestrengt

Und dann vernahm ich

leise Warnungsworte durch die Lüfte

schweben

„Mach schnell“,

so riefen sie mir scheinbar zu,

und schließe deinen Mantel,

ziehe die warmen Kleider an,

denn der Eiswind  stöhnt und

pfeift und krächzt

und der Winter kommt schon bald.

Herbstwolken träufeln unverwandt den Regen

auf das graue stille Land hier im Gebirge.

Und durch den Nebelschleier kommt

ein Bauer alt gebeugt,

um letzte Halme ruhig einzuernten

auf der erschöpften Erde.

 

Die Nacht im Herbst ist lang und dunkel *

Die Nacht im Herbst ist lang und dunkel

berührst die Stunden still mit Deiner Seele

Die Nacht im Herbst ist lang und dunkel.

Doch wie verwandelt ist die Welt,

hier bei mir weilst

in trautem Zwiegespräch;

und sendest sie auf ihren Weg mit frohem Schwung.

_

* Ryokwan (1758 Echigo – 1831 Nagaoka / Niigata)

aus: Fischer / Bauer, Tautropfen auf dem Lotosblatt, 1981

 

 

Wolfram Müller_Fotografien

 

Dieter Konwiarz_Fotografien

 

Walter Goetze _ Gitarren

November_Melancholie

 

 

Zu der Galerie – Kultur und Natur